Regulativ 1839

Das Regulativ war das erste kontinentaleuropäische Gesetz zur Einschränkung der Kinderarbeit und das erste deutsche Arbeitsschutzgesetz. Bereits die Hardenberg-Umfrage zeigte offen die Folgen der Kinderarbeit und bildete die Grundlage für dieses Gesetz. Verschärfend kam noch hinzu, dass 1828 ein hoher Militärangehöriger den König darauf hinwies, dass wegen des schlechten Allgemeinzustandes der jungen Männer aus der Rheinprovinz kein vollständiges Truppenkontingent zusammengestellt werden konnte. Entscheidend bei der Abfassung dieses Gesetzes schien aber vor allem zu sein, dass die bestehende Schulpflicht in der Rheinprovinz nicht erfüllt wurde.
Regulativ

über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken.
D. d. den 9. März 1839.

§ 1. Vor zurückgelegtem neunten Lebensjahre darf Niemand in einer Fabrik oder bei Berg-, Hütten- und Pochwerken zu einer regelmäßigen Beschäftigung angenommen werden.

§ 2. Wer noch nicht einen dreijährigen regelmäßigen Schulunterricht genossen hat, oder durch ein Zeugnis des Schulvorstandes nachweist, daß er seine Muttersprache geläufig lesen kann und einen Anfang im Schreiben gemacht hat, darf vor zurückgelegtem sechszehnten Jahre zu einer solchen Beschäftigung in den genannten Anstalten nicht angenommen werden. Eine Ausnahme hiervon ist nur da gestattet, wo die Fabrikherren durch Errichtung und Unterhaltung von Fabrikschulen den Unterricht der jungen Arbeiter sichern. Die Beurtheilung, ob eine solche Schule genüge, gebührt den Regierungen, welche in diesem Falle auch das Verhältnis zwischen Lern- und Arbeitszeit zu bestimmen haben.

§ 3. Junge Leute, welche das sechzehnte Lebensjahr noch nicht zurückgelegt haben, dürfen in diesen Anstalten nicht über zehn Stunden täglich beschäftigt werden. Die Orts-Polizei-Behörde ist befugt, eine vorübergehende Verlängerung dieser Arbeitszeit zu gestatten, wenn durch Naturereignisse oder Unglücksfälle der regelmäßige Geschäftsbetrieb in den genannten Anstalten unterbrochen und ein vermehrtes Arbeitsbedürfniß dadurch herbeigeführt worden ist. Die Verlängerung darf täglich nur eine Stunde betragen und darf höchstens für die Dauer von vier Wochen gestattet werden.

§ 4. Zwischen den im vorigen Paragraphen bestimmten Arbeitsstunden ist den genannten Arbeitern Vor- und Nachmittags eine Muße von einer Viertelstunde und Mittags eine ganze Freistunde und zwar jedesmal auch Bewegung in freier Luft zu gewähren.

§ 5. Die Beschäftigung solcher jungen Leute vor 5 Uhr Morgens und nach 9 Uhr Abends, so wie an den Sonn- und Feiertagen ist gänzlich untersagt.

§ 6. Christliche Arbeiter, welche noch nicht zur heiligen Kommunion angenommen sind, dürfen in denjenigen Stunden, welche ihr ordentlicher Seelsorger für ihren Katechumen- und Konfirmanden-Unterricht bestimmt hat, nicht in den genannten Anstalten beschäftigt werden.

§ 7. Die Eigenthümer der bezeichneten Anstalten, welche junge Leute in denselben beschäftigen, sind verpflichtet, eine genaue und vollständige Liste, deren Namen, Alter, Wohnort, Eltern, Eintritt in die Fabrik enthaltend, zu führen, dieselbe in dem Arbeits-Lokal aufzubewahren und den Polizei- und Schulbehörden auf Verlangen vorzulegen.

§ 8. Zuwiderhandlungen gegen diese Verordnung sollen gegen die Fabrikherren, oder deren mit Vollmacht versehenen Vertreter durch Strafen von 1 bis 5 Thalern für jedes vorschriftswidrig beschäftigte Kind geahndet werden. Die unterlassene Anfertigung oder Fortführung der im §7 vorgeschriebenen tabellarischen Liste wird zum ersten Male mit einer Strafe von 1 bis 5 Thalern geahndet; die zweite Verletzung dieser Vorschrift wird mit einer Strafe von 5 bis 50 Thalern belegt. Auch ist die Orts-Polizei-Behörde befugt, die Liste zu jeder Zeit anfertigen oder vervollständigen zu lassen. Es geschieht dies auf Kosten des Kontravenienten, welche zwangsweise im administrativen Wege beigetrieben werden können.

§ 9. Durch vorstehende Verordnung werden die gesetzlichen Bestimmungen über die Verpflichtung zum Schulbesuch nicht geändert. Jedoch werden die Regierungen da, wo die Verhältnisse die Beschäftigung schulpflichtiger Kinder in den Fabriken nöthig machen, solche Einrichtungen treffen, daß die Wahl der Unterrichtsstunden den Betrieb derselben so wenig als möglich störe.

§ 10. Den Ministern der Medizinal-Angelegenheiten, der Polizei und der Finanzen bleibt es vorbehalten, diejenigen besondern sanitäts-, bau- und sittenpolizeilichen Anordnungen zu erlassen, welche die zur Erhaltung der Gesundheit und Moralität der Fabrikarbeiter für erforderlich halten. Die hierbei anzudrohenden Strafen dürfen 50 Thaler Geld- oder eine diesem Betrag entsprechende Gefängnisstrafe nicht übersteigen. ”
Berlin, den 9. März 1839.
Königliches Staats-Ministerium.
Friedrich Wilhelm, Kronprinz.

Konsequenz aus dem Regulativ

Fabrikinspektoren wurden eingesetzt, um die Einhaltung der Gesetze zu kontrollieren und Fabrikschulen und Fortbildungsschulen für nicht mehr schulpflichtige Arbeiter zu initiieren. All diese Maßnahmen griffen trotz Strafzahlungen nur sehr langsam. Leider konnten die Fabrikkinder auch nicht auf Unterstützung von kirchlicher Seite hoffen, wie eine Forderung der Aachener Geistlichkeit auf dem Kirchentag 1865 in Trier belegt: Sie sahen im Schulzwang ein unheilvolles Eingreifen in die Rechte der Familie und forderten die Abschaffung. Im Jahr 1862 konnten die ersten Fabrikschulen in Aachen eröffnet werden, und erst 1881 konnten die Inspektoren die Einhaltung aller Gesetze in den Aachener Fabriken bestätigen. Bei einer Kontrolle arbeiteten nur noch 38 nicht mehr schulpflichtige Kinder unter 14 Jahren in den Fabriken und zwar nur noch wenige Stunden am Tag.
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